Entwicklung der Nierenlebendspende und Gründung des Schweizer Organ Lebendspender-Gesundheitsregister SOL-DHR (Swiss Organ Living-Donor Health Registry)

1954

Die Idee, kranken Menschen mit schweren Organschäden ein funktionierendes Spenderorgan einzusetzen, ist ein jahrhundertealter Traum der Menschheit.

Im Jahr 1954 erfolgte die erste Nierentransplantation durch eine Lebendspende. Der Chirurg Joseph Edward Murray transplantierte am Brigham Hospital in Boston einem schwer nierenkranken Patienten die Niere seines eineiigen Zwillingsbruders. Diese Operation war für Richard Herrick lebensrettend, denn die Dialyse war damals nicht verfügbar und Patienten mit chronischem Nierenversagen verstarben. Der postoperative Verlauf war komplikationslos und Richard Herrick lebte mit dieser Niere noch 8 Jahre, was für diese Zeit ein grosser Erfolg war.


Richard Herrick mit seinem Zwillingsbruder im Jahre 1954

1956

Zwei Jahre später transplantierte Joseph Murray einer damals 21-jährigen Patientin die Niere ihrer eineiigen Zwillingsschwester. Die Empfängerin erholte sich gut nach der Operation, brachte ein Jahr später ein Kind zur Welt und starb erst 2011 mit 76 Jahren.

1966

Die erste erfolgreiche Nierenlebendspende in der Schweiz wurde im Jahr 1966 durch Ake Senning und Felix Largiadèr im Kantonsspital Zürich durchgeführt. 1966 wurde auch die erste Nierenlebendtransplantation in Basel unter der Leitung von Prof. Gil Thiel und dem Chirurgen Prof. F. Enderlin durchgeführt. In der Folge wurde Basel unter der Leitung von Prof. Gil Thiel rasch zu einem national und international führenden Zentrum der Nierentransplantation.

Durch das bessere Verständnis des Immunsystems und Immunsuppression mit Entwicklung der ersten Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems war es nachfolgend auch möglich, Organe von verstorbenen Spendern zu entnehmen und zu transplantieren. Die Spende von verstorbenen Spendern war bis Anfang der Neunzigerjahre die häufigste Art der Nierentransplantation.

Die zunehmenden Erfahrungen mit der Lebendspende belegten aber, dass das Risiko für die Spender*innen vertretbar ist. Gleichzeitig waren die Resultate nach Lebendnierentransplantation deutlich besser als bei der Spende von verstorbenen Organspendern. Diese positiven Ergebnisse und der zunehmende Organmangel führten zu einem massiven Anstieg der Lebendnierentransplantationen.

1990

1990 wurde Joseph Murray für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Organtransplantation, gemeinsam mit dem Pionier der Stammzellentransplantation Edward Donnall Thomas (*1920-†2012), mit dem Medizinnobelpreis in Stockholm geehrt.


Prof. Joseph Murray mit dem Medizinnobelpreis von 1990

1993

Mit dem Anstieg der Nierenlebendspende wuchs auch die Verantwortung der Transplantationszentren gegenüber den Spendern. Bevor eine gesunde Person zur Nierenspende einwilligt, sollte sie objektiv über die Kurz- und Langzeitrisiken des Eingriffs informiert werden. Art und Häufigkeit der Risiken mussten aber erst erfasst werden, damit die Informationen belegt werden konnten. Wer eine Niere gespendet hat, sollte ausserdem kostenlose und regelmässige Gesundheitsnachkontrollen erhalten, um gesundheitliche Risiken für die verbliebene Niere frühzeitig erkennen und behandeln zu können.

Um diese verschiedenen zentralen Forderungen umzusetzen, gründete Prof. Gil Thiel im April 1993 das Schweizer Organ Lebendspender-Gesundheitsregister (SOL-DHR, Swiss Organ Living-Donor Health Registry). Es war weltweit das erste prospektive Gesundheitsregister dieser Art. Seither wurden nahezu alle Personen, die ab April 1993 eine Niere gespendet hatten, ins Register aufgenommen und regelmässig medizinisch nachbetreut.

2003 Im Jahr 2003 war in der Schweiz erstmals die Zahl der Nierentransplantationen von Lebendspendern grösser als die von verstorbenen Organspendern.
2008

Im Jahr 2008 wurden auch die Leberlebendspender*innen ins Register integriert.

Die Informationen, die bis vor der Gründung von SOL-DHR zukünftigen Organspender*innen gegeben werden konnten, beruhten auf Erfahrungen von Patient*innen, Spender*innen und Nephrologen mit Erfahrung auf dem Gebiet der Lebendspende. Mit den Erkenntnissen aus den Analysen der über 20-jährigen Datensammlung kann SOL-DHR künftige Spender und behandelnde Ärzte über Aspekte der Nierenlebendspende wissenschaftlich fundiert beraten.

Professor Dr. med. Gilbert T. Thiel (*1934-†2012)

Gil Thiel - wie er im Kollegenkreis genannt wurde - war ein Vordenker der Transplantationsmedizin und Pionier der Nierentransplantation und Nierenlebendspende in der Schweiz und weit über die Landesgrenze hinaus.

Im Jahr 1968 wurde er an das damalige Bürgerspital Basel berufen, um ein Programm für Nierentransplantation aufzubauen. So begann er zusammen mit seinem chirurgischen Partner Florian Enderlin in Basel die Nierentransplantation zu etablieren. Das Fachwissen erlernte er in Boston von John P. Merrill, der die treibende Kraft hinter den weltweit ersten Nierentransplantationen war. John P. Merrill leitete 1954 das Team, das die erste erfolgreiche Nierentransplantation zusammen mit dem Chirurgen Joseph Edward Murray durchführte.

Gil Thiel wurde im Jahr 1969 Leiter der Abteilung Organtransplantation am Universitätsspital Basel und war von 1985 bis zu seiner Emeritierung 1999 Leiter der Abteilung für Nephrologie. Unter Gil Thiels Leitung wurde Basel rasch zu einem national und international führenden Zentrum der Nierentransplantation. Er hat die Transplantationslandschaft in Europa entscheidend geprägt. Unter seiner Leitung erfolgte die weltweit erste Transplantation bei einem Diabetiker, die ersten Cyclosporinbehandlungen, die erste nicht Verwandtenlebendspende und die erste Crossover-Transplantation im deutschsprachigen Raum. Er forschte nicht nur auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin, sondern auf dem gesamten Gebiet der Nephrologie, insbesondere der akuten Niereninsuffizienz.

In den 90er-Jahren stieg der Anteil der Nierentransplantationen von Lebendspendern deutlich an. Damit wuchs auch die Verantwortung der Transplantationszentren gegenüber den Spendern. Gil Thiel überzeugte die anderen fünf Schweizer Transplantationszentren von der Notwendigkeit einer lebenslangen Nachsorge des Gesundheitszustandes der Nierenlebendspender*innen sowie der Erfassung der Kurz- und Langzeitrisiken in einem nationalen und prospektiven Gesundheitsregister. So wurde im April 1993 durch Gil Thiel das Schweizer Lebendspender-Gesundheitsregister (SOL-DHR, Swiss Organ Living-Donor Health Registry) zum Schutz der Gesundheit aller Lebendspender, die in der Schweiz eine Niere gespendet hatten, gegründet. Es war das erste prospektive Lebendspenderregister weltweit.

Im Lebendspender-Gesundheitsregister wird in regelmässigen Abständen und lebenslang der Gesundheitszustand der Lebendspender*innen prospektiv erfasst. Durch die regelmässigen Kontrollen der Spender*innen konnte Gil Thiel Langzeitprobleme nach Nierenspende aufdecken und rechtzeitig intervenieren. Mit den gewonnenen Erkenntnissen seiner Analysen konnten Spender*innen, behandelnde Ärzte und Transplantationszentren über Vorteile und Risiken der Nierenspende umfassend und wissenschaftlich fundiert beraten werden. Die Kosten für den Betrieb des nationalen Registers finanzierte Gil Thiel mit Hilfe von diversen Sponsoren. Seine Arbeitsleistung für das Register erbrachte er unentgeltlich. Im 2008 wurden auch die Leberlebendspender*innen in das Register aufgenommen.

Die Arbeit von Gil Thiel hat auch die Gesetzgebung in der Schweiz massgeblich beeinflusst, indem die Standards, die er mit SOL-DHR einführte, in die schweizerische Gesetzgebung einflossen. Die von ihm seit 1993 freiwillig übernommene Aufgabe der periodischen Spendernachbetreuung wurde am 1. Juli 2007 ins Schweizer Transplantationsgesetz übernommen und zur gesetzlichen Pflichtleistung für die Transplantationszentren erklärt. Im Juni 2009 gründete Gil Thiel die Stiftung für die Nachkontrollen der Organlebendspender (SNO), in die SOL-DHR integriert wurde. Die Stiftung SNO bezweckt, die im Transplantationsgesetz vorgesehene Nachbetreuung von Organ-Lebendspendern schweizweit zu fördern und sicherzustellen, insbesondere in finanzieller Hinsicht.

Auf Initiative von Gil Thiel wurde 2004 auch der Lebendspenderverein SOLV-LN (Schweizer Organ Lebendspenderverein Leber/Niere) gegründet. Wichtig war ihm, dass sich die Spender organisieren und solidarisieren.

Gil Thiel war eine herausragende Persönlichkeit, die mehrere Generationen von Medizinern und die Transplantationsmedizin nicht nur in der Schweiz stark geprägt hat. In seinen Vorträgen gab er sein Wissen und seine Erfahrung weiter. Die Kombination von klarer Logik, fundierten Daten, reicher Erfahrung und kluger Analyse überzeugten das Fach- und Laienpublikum. Im Mittelpunkt seines Wirkens stand der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit. Er begegnete Menschen mit viel Einfühlungsvermögen, Verständnis und grossem Einsatz und begleitete sie auf ihrem schwierigen Weg. Gil Thiel war immer authentisch. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn, einen grossen Kampfgeist und eine unermüdliche Schaffenskraft. Für seine Patienten war er der Inbegriff des Arztes. Gil Thiel war ein Grosser seines Faches und ein grossartiger Mensch.

Gil Thiel hat im Jahre 2010 Prof. Jürg Steiger als seinen Nachfolger für das Lebendspender-Gesundheitsregister designiert. Das nationale Register betreut inzwischen mehr als 2600 Nierenlebendspender*innen und mehr als 60 Leberlebendspender*innen.

Christa Nolte, M.A.

Christa Nolte war über 20 Jahre beim Lebendspender-Gesundheitsregister tätig und hat viele Jahre mit Prof. Thiel und Prof. Steiger zusammengearbeitet. Sie hat wesentlich am Aufbau und der Weiterentwicklung des Schweizer Organ Lebendspender-Gesundheitsregisters SOL-DHR mitgewirkt. Nach der gesetzlichen Verankerung von SOL-DHR hat sie für das Bundesamt für Gesundheit das Umsetzungskonzept erstellt und umgesetzt. Sie hat die Entwicklung der neuen SOL-DHR-Datenbank überwacht und die Abnahme durchgeführt. Durch ihr unermüdliches Engagement steht das Lebendspender-Gesundheitsregister nach ihrem Ausscheiden auf einer zukunftsorientierten Basis mit einer soliden Finanzierung.